Der Wolf
Hermann Hesse (1907)
Noch nie war in den französischen Bergen ein so unheimlich kalter
und langer Winter gewesen. Seit Wochen stand die Luft klar, spröde
und kalt. Bei Tage lagen die großen, schiefen Schneefelder
mattweiß und endlos unter dem grellblauen Himmel, nachts ging klar
und klein der Mond über sie hinweg, ein grimmiger Frostmond von
gelbem Glanz, dessen starkes Licht auf dem Schnee blau und dumpf wurde
und wie der leibhaftige Frost aussah. Die Menschen mieden alle Wege und
namentlich die Höhen, sie saßen träge und schimpfend
in den Dorfhütten, deren rote Fenster nachts neben dem blauen
Mondlicht rauchig trüb erschienen und bald erloschen.
Das war eine schwere Zeit für die Tiere der Gegend. Die kleineren
erfroren in Menge, auch Vögel erlagen dem Frost, und die hageren
Leichname fielen den Habichten und Wölfen zur Beute. Aber auch
diese litten furchtbar an Frost und Hunger. Es lebten nur wenige
Wolfsfamilien dort, und die Not trieb sie zu festerem Verband.
Tagsüber gingen sie einzeln aus. Da und dort strich einer
über den Schnee, mager, hungrig und wachsam, lautlos und scheu
wie ein Gespenst. Sein schmaler Schatten glitt neben ihm über
die Schneefläche. Spürend reckte er die spitze Schnauze in
den Wind und ließ zuweilen ein trockenes, gequältes Geheul
vernehmen. Abends aber zogen sie vollzählig aus und drängten
sich mit heiserem Heulen um die Dörfer. Dort war Vieh und
Geflügel wohlverwahrt, und hinter festen Fensterladen lagen Flinten
angelegt. Nur selten fiel eine kleine Beute, etwa ein Hund, ihnen zu,
und zwei aus der Schar waren schon erschossen worden.
Der Frost hielt immer noch an. Oft lagen die Wölfe still und
brütend beisammen, einer am andern sich wärmend, und lauschten
beklommen in die tote Öde hinaus, bis einer, von den grausamen
Qualen des Hungers gefoltert, plötzlich mit schauerlichem
Gebrüll aufsprang. Dann wandten alle anderen ihm die Schnauze
zu, zitterten und brachen miteinander in ein furchtbares, drohendes
und klagendes Heulen aus. Endlich entschloss sich der kleinere Teil
der Schar, zu wandern. Früh am Tage verließen sie ihre
Löcher, sammelten sich und schnoberten erregt und angstvoll in
die frostkalte Luft. Dann trabten sie rasch und gleichmäßig
davon. Die Zurückgebliebenen sahen ihnen mit weiten, glasigen
Augen nach, trabten ein paar Dutzend Schritte hinterher, blieben
unschlüssig und ratlos stehen und kehrten langsam in ihre leeren
Höhlen zurück.
Die Auswanderer trennten sich am Mittag voneinander. Drei von ihnen
wandten sich östlich dem Schweizer Jura zu, die anderen zogen
südlich weiter. Die drei waren schöne, starke Tiere, aber
entsetzlich abgemagert. Der eingezogene helle Bauch war schmal wie ein
Riemen, auf der Brust standen die Rippen jämmerlich heraus, die
Mäuler waren trocken und die Augen weit und verzweifelt. Zu dreien
kamen sie weit in den Jura hinein, erbeuteten am zweiten Tag einen
Hammel, am dritten einen Hund und ein Füllen und wurden von allen
Seiten her wütend vom Landvolk verfolgt. In der Gegend, welche
reich an Dörfern und Städtchen ist, verbreitete sich Schrecken
und Scheu vor den ungewohnten Eindringlingen. Die Postschlitten wurden
bewaffnet, ohne Schießgewehr ging niemand von einem Dorf zum
anderen. In der fremden Gegend, nach so guter Beute, fühlten sich
die drei Tiere zugleich scheu und wohl; sie wurden tollkühner als
je zu Hause und brachen am hellen Tage in den Stall eines Meierhofes.
Gebrüll von Kühen. Geknatter splitternder Holzschranken,
Hufegetrampel und heißer, lechzender Atem erfüllten den
engen, warmen Raum. Aber diesmal kamen Menschen dazwischen. Es war ein
Preis auf die Wölfe gesetzt, das verdoppelte den Mut der Bauern.
Und sie erlegten zwei von ihnen, dem einen ging ein Flintenschuss durch
den Hals, der andere wurde mit einem Beil erschlagen. Der dritte entkam
und rannte so lange, bis er halbtot auf den Schnee fiel. Er war der
jüngste und schönste von den Wölfen, ein stolzes Tier
von mächtiger Kraft und gelenken Formen. Lange blieb er keuchend
liegen. Blutig rote Kreise wirbelten vor seinen Augen, und zuweilen
stieß er ein pfeifendes, schmerzliches Stöhnen aus. Ein
Beilwurf hatte ihm den Rücken getroffen. Doch erholte er sich und
konnte sich wieder erheben. Erst jetzt sah er, wie weit er gelaufen war.
Nirgends waren Menschen oder Häuser zu sehen. Dicht vor ihm lag ein
verschneiter, mächtiger Berg. Es war der Chasseral. Er beschloss,
ihn zu umgehen. Da ihn Durst quälte, fraß er kleine Bissen
von der gefrorenen, harten Kruste der Schneefläche.
Jenseits des Berges traf er sogleich auf ein Dorf. Es ging gegen Abend.
Er wartete in einem dichten Tannenforst. Dann schlich er vorsichtig
um die Gartenzäune, dem Geruch warmer Ställe folgend.
Niemand war auf der Straße. Scheu und lüstern blinzelte er
zwischen den Häusern hindurch. Da fiel ein Schuss. Er warf den
Kopf in die Höhe und griff zum Laufen aus, als schon ein zweiter
Schuss knallte. Er war getroffen. Sein weißlicher Unterleib
war an der Seite mit Blut befleckt, das in dicken Tropfen zäh
herabrieselte. Dennoch gelang es ihm, mit großen Sätzen zu
entkommen und den jenseitigen Bergwald zu erreichen. Dort wartete er
horchend einen Augenblick und hörte von zwei Seiten Stimmen und
Schritte. Angstvoll blickte er am Berg empor. Er war steil, bewaldet und
mühselig zu ersteigen. Doch blieb ihm keine Wahl. Mit keuchenden
Atem klomm er die steile Bergwand hinan, während unten ein
Gewirre von Flüchen, Befehlen und Laternenlichtern sich den Berg
entlangzog. Zitternd kletterte der verwundete Wolf durch den halbdunkeln
Tannenwald, während aus seiner Seite langsam das braune Blut
hinabrann.
Die Kälte hatte nachgelassen. Der westliche Himmel war dunstig und
schien Schneefall zu versprechen.
Endlich hatte der Erschöpfte die Höhe erreicht. Er stand nun
auf einem leicht geneigten, großen Schneefelde, nahe bei Mont
Crosin, hoch über dem Dorfe, dem er entronnen. Hunger fühlte
er nicht, aber einen trüben, klammernden Schmerz von der Wunde. Ein
leises, krankes Gebell kam aus seinem hängenden Maul, sein Herz
schlug schwer und schmerzhaft und fühlte die Hand des Todes wie
eine unsäglich schwere Last auf sich drücken. Eine einzeln
stehende breitästige Tanne lockte ihn; dort setzte er sich und
starrte trübe in die graue Schneenacht. Eine halbe Stunde verging.
Nun fiel ein mattrotes Licht auf den Schnee, sonderbar und weich. Der
Wolf erhob sich stöhnend und wandte den schönen Kopf dem
Licht entgegen. Es war der Mond, der im Südost riesig und blutrot
sich erhob und langsam am trüben Himmel höher stieg. Seit
vielen Wochen war er nie so rot und groß gewesen. Traurig hing
das Auge des sterbenden Tieres an der matten Mondscheibe, und wieder
röchelte ein schwaches Heulen schmerzlich und tonlos in die Nacht.
Da kamen Lichter und Schritte nach. Bauern in dicken Mänteln,
Jäger und junge Burschen in Pelzmützen und mit plumpen
Gamaschen stapften durch den Schnee. Gejauchze erscholl. Man hatte
den verendenden Wolf entdeckt, zwei Schüsse wurden auf ihn
abgedrückt und beide fehlten. Dann sahen sie, dass er schon im
Sterben lag, und fielen mit Stöcken und Knütteln über ihn
her. Er fühlte es nicht mehr.
Mit zerbrochenen Gliedern schleppten sie ihn nach St. Immer hinab. Sie
lachten, sie prahlten, sie freuten sich auf Schnaps und Kaffee, sie
sangen, sie fluchten. Keiner sah die Schönheit des verschneiten
Forstes, noch den Glanz der Hochebene, noch den roten Mond, der
über dem Chasseral hing und dessen schwaches Licht in ihren
Flintenläufen, in den Schneekristallen und in den gebrochenen Augen
des erschlagenen Wolfes sich brach.